Heimat, Wut und Trauma
Heimat, Wut und Trauma
Gesellschaft
»Sachsen und der gefühlte Krieg«
Viele Sachsen sind dieser Tage sehr wütend. Erst das Thema Migration, jetzt Corona. Sachsen hat es dieser Tage sogar bis in die amerikanischen Abendnachrichten geschafft. In diesem Text geht es um die Frage, was hier los ist und wo es mit Sachsen hingehen könnte.
Zu Beginn eine böse Frage: Ging vielleicht alles zu schnell?
Zur Wende wollten viele von uns ein anderes Leben. Was dann passierte, wurde aber "doppelt anders". Das neue Leben ging zwar los wie gewünscht (bessere Autos, Reisen, besser einkaufen usw.). Aber jenseits des Reisens und Einkaufens wusste kaum jemand, wie die neuen Zeiten eigentlich funktionieren. Nur wenige haben vorhergesehen, dass eine schnelle Wiedervereinigung auch unerwünschte Ergeb- nisse zeitigen würde - und denjenigen hat man damals nicht zugehört.
Es ist ziemlich normal, dass man im Leben das eine will, mit der Zeit aber etwas anderes bekommt. Das mag uns zwar rational klar sein, emotional sind wir Ost- deutschen aber mehrheitlich auf Idealzustände konditioniert. Den Sozialismen war ja eigen, dass man als Teil der Volksgemeinschaft oder als real existierender sozia- listischer Mensch auf dem Weg ins Paradies des gesellschaftlichen Idealzustands ist. Die Mühen auf diesem Weg hat man gern außer Acht gelassen - bekanntermaßen bis hin zum völligen Realitätsverlust. Und ja, dieser Realitätsverlust wurde auch kollektiv zelebriert. Wir haben mitgemacht, mussten mitmachen, wurden so erzo- gen. Wir wussten ganz genau, was man wo sagen kann und was nicht - und was man sagen muss, wenn man in Hörweite der Offiziellen oder auch Inoffiziellen war oder an einer der öffentlichen Zelebrationen teilnehmen sollte.
Zurück zu dem, was wir vielleicht gewollt haben könnten: Schwierig kann das insbesondere dann werden, wenn man nur weiß, was man nicht möchte und von dem, was man möchte, nur ein unscharfes Bild hat. Am einfachsten hatten es deshalb vielleicht diejenigen Ostdeutschen, die wussten, was sie wollten - und weggegangen sind.
Die Frage ist, was unter denjenigen, die geblieben sind, passiert ist.
Heimat und Affekt
Die DDR war ja keineswegs die „Heimat", zu der sie gern verklärt wird. Bei diesem Heimatbegriff handelt es sich um die kollektive Projektion einer „Affektgemeinschaft", die keineswegs alle Ostdeutschen, aber eben einen nicht geringen Teil umfasst.
Als Gegengift könnte man sich an die damaligen Tatsachen erinnern: Man stelle sich einen Wintermorgen in Görlitz in den späten Achtziger Jahren vor. Man muss früh das Haus verlassen. Der typische Geruch verbrannter Braunkohlenbriketts liegt in der Luft. Der Nachbar versucht, seine Pappe anzukriegen, was bei Minusgraden nicht immer einfach ist. Man läuft an entsetzlich verfallenen Fassaden vorbei zur Straßenbahnhaltestelle. Und so weiter. Reicht das schon? Es würde im Zweifelsfall helfen, sich reale Dokumentationen aus der Wendezeit anzusehen. Die DDR war schon länger pleite, als sie 1989 zusammenbrach. Aber die Mitglieder jener „Affektgemeinschaft" verweigern sich an dieser Stelle, und jedes Argument, das mit „Tatsachen" daherkommen möchte, wird zur empfundenen Belehrung, hilft also nicht.
Was ist nach der Wende passiert?
Im Prinzip ließen sich seinerzeit vier wesentliche persönliche Reaktionsmuster auf die Wende und die Zeit danach beobachten:
Nichts wie weg hier: Wie bereits erwähnt gab es diejenigen, die weggegangen sind, um woanders entsprechend vielfältigere oder bessere Möglichkeiten zu haben.
Neue Zeiten? Welche neuen Zeiten? Demgegenüber gab es eine ganze Reihe von Menschen, die sich mehr oder minder von vornherein abgewendet haben und mit den „neuen Zeiten" nichts zu tun haben wollten. In vielen Befragungen sind diese „DDR-Nostalgiker" lange als eine eher kleine, aber stabile Gruppe aufgetaucht. Die über Jahrzehnte hinweg recht hohen Wähleranteile der heutigen Links-Partei und ihrer Vorgängerpartei in den ostdeutschen Bundesländern sprechen ebenfalls für sich.
Zuletzt sind diese Wähleranteile signifikant eingebrochen, was als ein Zeichen dafür gewertet werden kann, dass diese Gruppe mittlerweile eher klein ist und irgendwann verschwindet – was nicht bedeutet, dass die romantischen Gefühle, die mit der DDR verbunden sind, ebenfalls verschwinden. Im Gegenteil: Aktuell wirkt manche Popularisierung von DDR-Produkten (bspw. Mopeds) wie eine Renaissance der DDR-Nostalgie. Allerdings haben sich hier, so fürchte ich, die Vorzeichen geändert.
Die „transzendierte Unterlegenheit"
Was bei den einen eine harmlose Kultur-Renaissance sein mag (bspw. größere Gruppen vornehmlich recht junger S50-Fahrer an den Wochenenden), hat bei anderen eine tiefere, eher affektive und damit deutlich energischere oder im Extremfall auch aggressivere Bedeutung: An Ostdeutschland festzuhalten ist im Extremfall wie sich an einer Standarte festzuhalten, auf der steht, dass man lieber „stehend sterben" als „kniend leben" möchte.
Hier handelt es sich um die Reaktion auf eine „transzendierte Unterlegenheit": Man deutet die Vergangenheit so um, dass sie zum positiven identitätsstiftenden Merkmal wird. Die DDR erscheint nun als etwas, das sie nie war – und man ist im gleichen Atemzug wütend auf das, was gerade ist.
Wie wütend wären Sie wohl, wenn es die real existierende DDR noch gäbe?
Für die Vertreterinnen und Vertreter dieses Geistes wäre eine durchaus heilsame Frage diese: Wie wütend wären Sie wohl, wenn es die real existierende DDR noch gäbe? Wie groß wäre dann Ihre Sehnsucht nach dem, was wir jetzt haben? Aber freilich sind solche Fragen angesichts der gegenwärtigen Affektdynamik gerade in Sachsen weder stell- noch beantwortbar.
Quasi zwischen den beiden genannten Polen (weggegangen vs. nostalgisch zurückschauend) stehen diejenigen, die die Wende als Anfang von etwas Neuem verstanden haben und geblieben sind.
Das klingt komisch, negativ irgendwie: „...und geblieben sind." Man sagt ja, wenn man etwas schreibt, auch etwas über sich. Ja, ich bin auch geblieben. Gern sogar. Oder wenn man es so will: Ich bin nach ein paar Jahren im Ausland wiedergekommen. Macht eine solche Rückkehr wirklich einen Unterschied in den Sichtweisen? Das müsste man tatsächlich einmal messen.
In jedem Fall sollte es sich hier um die weitaus größte der bisher beschriebenen Gruppe handeln: diejenigen also, die wollten und endlich auch konnten. Diese Gruppe war keinesfalls homogen. Hier waren „irgendwie alle" dabei – jung und alt, systemfern oder -nah, optimistisch oder pessimistisch, ausländerfreundlich oder ausländerfeindlich, fromm oder atheistisch, eher offen oder erstmal skeptisch.
Erfolgreich oder enttäuscht?
Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden (sinngemäß nach Sören Kierkegaard), und so hat sich diese große und heterogene Gruppe später geteilt, und zwar in die, die Hoffnung hatten und erfolgreich wurden, und jene, die zwar Hoffnung hatten, aber später enttäuscht wurden.
Aber was ist eigentlich „Erfolg"? Naheliegen würde, sich auf wirtschaftlichen Erfolg zu konzentrieren. War man also als Unternehmer, Mitarbeiter oder Führungskraft erfolgreich? Das war im Ostdeutschland der Neunziger Jahre tatsächlich eine existentielle Frage: Habe ich einen vernünftigen Job? An dieser Frage sind nicht wenige Biographien zerbrochen.
Das würde zu der Frage führen, ob man es geschafft hat, in der Nachwendewelt erfolgreich eine Rolle zu spielen – was über den wirtschaftlichen Erfolg hinaus bspw. auf die Felder der Kunst oder der Familie erweitert werden müsste. Man kann als Elternteil oder Künstlerin durchaus erfolgreich gewesen sein, ohne dass sich das wirtschaftlich spürbar niedergeschlagen haben muss.
Optimistisch oder pessimistisch?
Das bedeutet, dass man nicht nur nach Erfolg fragen, sondern die Frage weiter fassen sollte. Die eigentliche Frage sollte meines Erachtens lauten, ob man in der Nachwendezeit optimistisch geblieben ist oder enttäuscht wurde oder irgendwie anders zum Pessimismus gekommen ist. Eine der großen Lebensfragen – im wissenschaftlichen Sinne: eine der wesentlichen Einflussvariablen in Bezug auf die Lebenszufriedenheit – lautet: Hat man in Bezug auf das eigene Leben Hoffnung oder nicht?
Hier spielen individuelle Erwartungen und entsprechende Prägungen ebenso eine Rolle wie gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Möglichkeiten. Die „Wahrnehmung der Möglichkeiten" ist dabei eine eher individuelle Variable, während die „tatsächlich möglichkeitsbestimmenden" Variablen eher gesellschaftlicher oder politischer Natur sind: Ich kann also zum Beispiel hohe oder niedrige Erwartungen an meinen Erfolg in einer freien Gesellschaft haben (zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika), oder ich kann ebensolche Erwartungen an meinen Erfolg in einem Staat haben, der nur wenige (zum Beispiel Bosnien-Herzegowina) oder gar keine freien Möglichkeiten bietet (beispielsweise Afghanistan).
Nehmen wir einmal an, dass entsprechende Erwartungen in Deutschland zum Erfolg führen können, dass die Möglichkeiten aber regional unterschiedlich verteilt sind (Stadt versus Land, und ja: auch West versus Ost).
Gute Absicht schützt nicht davor, dass es schief geht
Wenn wir jetzt noch annehmen, dass nach der Wende viele derjenigen mit hohen Erwartungen weggegangen sind, und wenn wir des Weiteren annehmen, dass es statistisch durch den Umstand, dass der Osten im Prinzip „gekauft" und „übernommen" wurde (hohe Sozialleistungen bei gleichzeitig hoher Übernahmerate ostdeutscher Wirtschaftsstrukturen durch Unternehmen aus dem Westen), zu einer signifikanten Unterrepräsentation Ostdeutscher in Führungsstrukturen gekommen ist, und wenn wir zudem annehmen, dass viele ostdeutsche „Mittelständler" (was vor der Wende de facto gleichbedeutend mit Handwerkern oder Einzelhändlern war) die neuen Kulturtechniken (Angebote, Preisverhandlungen mit entsprechender Strategie und Taktik und nicht mehr vor allem über „Beziehung" oder „Vertrauen") erst einmal erlernen mussten, dann wird deutlich, wie groß die Lücke war – und wie schnell diese Lücke mit westdeutschen Führungskräften, Importbeamten usw. gefüllt wurde.
Aus einem von den meisten herbeigewünschten bzw. mindestens befürworteten politischen Traum wurde schnell ein Markt der wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten – zunächst in Konkurrenz mit denjenigen, die in den Startlöchern standen und im Westen keine so schönen Möglichkeiten bekommen hätten.
So ist das vielleicht, wenn man – mit guter Absicht – ein Land „kauft" bzw. „übernimmt": Man hilft kurzfristig, langfristig gibt es mindestens einen „Kater" mit entsprechend schlechter Laune.
Projektion und Wut
Diese „schlechte Laune" betrifft weniger diejenigen, die erfolgreich wurden und noch immer optimistisch sind, sondern mehr jene, die optimistisch gestartet sind und später enttäuscht wurden – wobei man eben anerkennen muss, dass eine Enttäuschung neben den personenbezogenen Ursachen auch durch von der betroffenen Person unabhängige Faktoren hervorgerufen werden kann. Manche können kaum etwas dafür und werden zum Opfer etwa mieser Vorgesetzter oder ungünstiger Umstände, bei anderen ist es umgekehrt, die meisten Fälle liegen wahrscheinlich dazwischen: Zu einem Umstand kommen die eigenen Handlungen, und am Ende kommt heraus, was eben herauskommt.
Am Ende hat für viele – unter ihnen eine hohe Zahl Enttäuschter, aber durchaus auch Erfolgreiche – ein Unterlegenheitsgefühl dominiert. Und auch wenn es sich dabei „nur" um eine wenig greifbare, vielleicht noch nicht einmal bewusste, transzendierte – also irgendwie projizierte, verfremdete, verallgemeinerte – Unterlegenheit handelt, die daraus resultierende Wut ist real. Und da es aufgrund der Projektion kein irgendwie „echtes" Ziel für die Wut gibt, müssen Migranten herhalten oder neuerdings Politiker, die versuchen, ihr Bundesland irgendwie durch die Pandemie zu steuern.
Das Texas Sachsens
Kürzlich habe ich mal jemanden aus dem Erzgebirge sagen hören, dass das Erzgebirge das Texas von Sachsen sei. Ich kann mir vorstellen, dass manche ob solcher Vergleiche erschrecken, denn die sächsische Meinungslandschaft ist ja bereits im innerdeutschen Vergleich besonders – was ist da nur erst im Erzgebirge los?
In jedem Fall weist dieser Vergleich auf manche Parallele mit den gesellschaftlichen Konflikten in den Vereinigten Staaten hin. Auch dort haben wir es in manchen Bevölkerungsgruppen mit einer Art Wut zu tun, die der letzte Präsident mit bisher kaum gekannter Effektivität für sich zu nutzen wusste.
Politiker werden als Verräter empfunden
Wenn das bisher Gesagte nicht ganz abwegig ist, dann haben wir es – im gesamten Osten tendentiell, zugespitzter aber in Sachsen – mit folgender Konstellation zu tun: Man wollte 1989 zu Recht ein ebenso ungerechtes wie unfreies und autoritäres, in sich schon ziemlich marodes System loswerden. Man hatte auch eine Blaupause vor Augen, deren „schnelle" Freiheiten man zu nutzen wusste, mit deren „inneren" Funktionsweisen jedoch manche besser und andere weniger gut klar kamen.
Was man heute gern ausblendet, ist, dass der durchschnittliche DDR-Bürger autoritär geprägt war. Mit der Wende ist diese Prägung nicht verschwunden. Man mag sich zwar die Bundesrepublik als „Blaupause" gewünscht haben, aber die Reaktionen auf die „neuen Zeiten" waren eben auch – nicht nur, aber auch, und das insbesondere unter Druck – autoritär. Die Autorität spielt dabei eine ambivalente Rolle. Normalerweise wird sie als lästige Instanz empfunden, mit der man sich irgendwie arrangieren muss. Wird es aber mal härter, dann will man von der Autorität beschützt werden. Ich denke, viele Ostdeutsche und insbesondere viele Sachsen haben sich 2016 von dem „Wir schaffen das!" der damaligen Bundeskanzlerin schlicht verraten gefühlt.
Die tatsächlichen menschlichen Kosten
In der Wendezeit hat man also mit einer – eher unbewussten – autoritären Prägung – sehr bewusst – etwas Neues gewollt, hat aber vor allem die oberflächlichen Freiheiten gesehen und wenig Ahnung von den tiefer gehenden Folgen gehabt. Der Wunsch nach Freiheit war also, so legitim er auch war, auf ebenso unbeabsichtigte wie zwangsläufige Weise und auf eher wenig bewussten, der rationalen Auseinandersetzung schwer zugänglichen Ebenen mit alten, sozialisationsbedingt konditionierten, autoritären Reaktionsmustern verbunden.
Die Reisefreiheit hat man quasi mitgenommen, und ein neues Auto gab es auch. Dann aber kamen für viele die Mühen der Ebene, und man hatte es wirklich nicht leicht bei vielen ostdeutschen Arbeitgebern der 90er Jahre. Langsam realisierte man die tatsächlichen menschlichen Kosten – und darüber können die massiven Investitionen in die ostdeutsche Infrastruktur nicht hinwegtrösten. Viele fühlen sich fremd, nicht angekommen, unterlegen.
Hängengebliebene Gefühle
Freilich hat sich die Welt weitergedreht, und gerade Sachsen ist wirtschaftlich vorangekommen. Aber das Gefühl ist „hängengeblieben". Wenn das stimmt, muss man sich umschauen, wann es zum „Hängenbleiben" von Gefühlen kommt. Dann landet man beim Begriff des Traumas. Wann kommt es zu einem Trauma? Wenn etwas passiert, das einem Menschen die Handlungskontrolle raubt, wenn die Angst so massiv wird, dass man handlungsunfähig wird und man die Dinge, die einem geschehen sind, nicht in die Erzählung des eigenen Lebens integriert bekommt.
Aus der neueren Forschung weiß man zudem, dass nicht nur unmittelbare Unglücke, Katastrophen oder Bedrohungslagen traumatische Reaktionen auslösen können, sondern auch längerfristige Ereignisse. Wenn man beispielsweise schweres Leid bei Kindern sieht und nicht helfen kann oder wenn man sehr lange sehr inkompetenten oder gar dummen Vorgesetzten ausgesetzt ist oder wenn dem eigenen Job oder Einsatz die gesellschaftliche Legitimation entzogen wird oder die eigenen Anstrengungen im Nachhinein als sinnlos erscheinen (wie es jüngst vielen Soldaten passiert ist, die im Afghanistan-Einsatz waren), dann kann auch das zu traumatischen Belastungsreaktionen führen.
In unserem Fall gibt es zwar kein unmittelbar auslösendes Ereignis im Sinne einer Katastrophe, aber der – sicher nur graduelle, aber eben langfristig wirksame – Kontrollverlust in Bezug auf das eigene Leben und in manchen Fällen sicher auch das Unvermögen, die Sache in die Erzählung des eigenen Lebens zu integrieren, sind dennoch gegeben. Meines Erachtens geht es hier eher um das „Echo eines Traumas", also etwas, das eher unmerklich geschehen ist, und das auch keiner wollte und das dementsprechend auch kaum einer auf dem Schirm hatte.
Man reagiert autoritär, meint aber Freiheit
Man erinnert sich sehr wohl an den eigenen Wunsch nach Freiheit und daran, dass man 1989 ein lästig gewordenes „System" losgeworden ist. Deshalb gibt es heute viele Menschen, die es sehr ernst meinen, wenn sie sagen, sie seien für Freiheit und gegen das „System". Dass da mindestens eine Verzerrung, wenn nicht gar Verwechslung vorliegt, wird nicht bewusst, eben weil traumaähnliche Reaktionen dies verhindern. Man meint zwar Freiheit, hat aber quasi „unfreie" Emotionen. Man reagiert nun, da die westliche Welt in schwierige Fahrwasser gerät, unbewusst mit den Affekten der autoritären Prägung, meint aber eigentlich Freiheit. Man reagiert gewissermaßen auf Basis der (autoritären) Sozialisation, hält aber die ganze Zeit (bewusst) die Standarte der Freiheit vor sich hin.
Ich höre schon die kritischen Stimmen: „Das ist doch vor allem ein Versäumnis der Bildung! Dann muss man in Sachsen in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren ja die Demokratiebildung extrem vernachlässigt haben!"
Ich habe bisher vor allem Zusammenhänge beschrieben, die so mehr oder minder für den ganzen Osten gelten. Es fehlen noch plausible Gründe, warum die Sache nun gerade in Sachsen so eskaliert. Ich denke, an dem eben zugespitzt formulierten Argument mit der fehlenden politischen Bildung ist etwas dran. Soweit ich in den letzten zwanzig Jahren mit sächsischen Politikern und die Bildung steuernden Beamten gesprochen habe, habe ich regelmäßig wahrgenommen, dass man stolz ist auf die Entwicklung, die der Freistaat genommen hat. Man hat eine bewusst konservative Bildungspolitik gemacht, und man war, wenn man PISA hernimmt, zu Recht stolz. Aber man hat eben auch die (linken) Mahner mehr oder weniger ignoriert und vor allem (erst) dann gehandelt, wenn es extrem wurde (bspw. SOKO REX).
Das doppelte Trauma
Wenn an der hier dargestellten Trauma-Theorie etwas dran ist, müsste man, konsequent gedacht, sogar noch einen Schritt weitergehen. Das Trauma durch den graduellen Verlust der Handlungskontrolle nach der Wende wäre dann ja nur ein weiteres in einem insgesamt traumatischen Jahrhundert. Wir müssten also angesichts der Lebenshorizonte der zur Zeit der Wende lebenden Menschen mindestens noch nach den potentiellen Spuren der beiden Sozialismen fragen, also nach den Wirkungen des Dritten Reiches und der DDR.
Zunächst müsste man fragen, ob die Nazizeit im Osten je aufgearbeitet wurde. Im Grunde liegt die Antwort nahe: Nein, das ist nie passiert; vielmehr wurde die „braune" durch eine „rote" Ideologie ersetzt, teilweise wurden Funktionäre einfach umgeschult, und weiter ging es. Freilich ging man in der roten Besatzungszone ganz und gar nicht zimperlich mit den expliziten Tätern um. Aber die totalitäre Prägung in den Köpfen setzte sich fort. Der eine Sozialismus wurde mit dem anderen ersetzt.
Allerdings müsste man hier fragen, ob eine „Aufarbeitung" in dem Sinne überhaupt möglich gewesen wäre. Die Geschichte hat in Ostdeutschland eine Konstellation geschaffen, die das schwierig gemacht hätte. Da war kein aufbrechender Individualismus, da gab es keine Amerikanisierung oder Demokratisierung und weit und breit keine Achtundsechziger.
Zudem muss man feststellen, dass sich der Impuls der Menschen in der Regel nicht auf „aufarbeiten", sondern auf „verdrängen" richtet – es sei denn, es gebe genügend junge Leute, die sich gerade in einer Phase des Übergangs zwischen Jugend und Erwachsenenalter befinden und rebellieren. Es gibt dieses Alter, ein gewisses Zeitfenster, in dem viele mit ihrem „drohenden Sozialisationsschicksal" hadern und sich gegen die Welt auflehnen. Ist man erstmal älter und hat einen Beruf und Kinder, macht man das in der Regel nicht mehr.
Die geschichtliche Konstellation in der Bundesrepublik war „frei genug" für die Achtundsechziger und ihre Vorstellungen. Im Osten hingegen war die Lage völlig anders, und es blieb oft genug nur der Rückzug ins Private – oder man wählte ein mindestens unwägbares, wenn nicht gefährliches Schicksal. Und den Mut, sich einem solchen Schicksal zu stellen, hatten nur wenige.
So scheint es nicht verwunderlich, dass der Umbruch in Ostdeutschland im Jahre 1989 nicht so sehr von unzufriedenen jungen Menschen hervorgerufen wurde, sondern dass die Dynamik der Opposition im Wesentlichen von den Kirchen ausging. Entscheidende Teile der ostdeutschen Opposition waren gläubige Protestanten. Meine Teilnahme am Evangelischen Kirchentag im Sommer 1989 war meine erste Reise ohne meine Eltern, und ich erinnere mich noch gut an den Reiz jener „halben" Untergrundveranstaltungen in den Kirchen, bei denen kritische Texte gesungen oder riskante Sätze gesagt wurden. Es gab ein „Flirren in der Luft", eine spürbare Spannung, die für mich, damals fünfzehnjährig, reizvoll war. Aber diese Spannung war nicht nur revolutionär, sie war auch gläubig. Insofern bleibt festzustellen, dass die Opposition in Organisationen zuhause war, die viel älter waren als jeder Nationalismus oder gar Sozialismus.
Wenn diese Betrachtung nicht ganz abwegig ist, muss man auch die folgenden Aspekte ins Auge fassen, um zu verstehen, was heute in Ostdeutschland los ist.
Keine Revolution
Der Umbruch wird zwar als friedliche „Revolution" bezeichnet, aber diese Bezeichnung ist mindestens missverständlich, wenn nicht irreführend. Indem die Opposition von den Kirchen ausging, ist die Wende in der ehemaligen DDR viel weniger mit den Veränderungen der späten Sechziger und frühen Siebziger Jahre im Westen Deutschlands vergleichbar als vielmehr mit der Zeit des Wirtschaftswunders der Fünfziger Jahre: Nachdem alles zusammengebrochen war, waren die Kirchen und der Glaube zwei der wenigen Elemente, auf die man sich halbwegs unbeschadet zurückbesinnen konnte.
Man verdrängte, war fleißig und erinnerte sich an das Gute, was man noch hatte, beispielsweise den Glauben. Dann wurden die in dieser Zeit geborenen Kinder groß und hielten ihren Eltern in den späten Sechziger Jahren deren Lebenslügen vor. Die Folgen davon (Individualisierung, autoritätsarme Erziehung, vergleichsweise robustes Demokratieverständnis usw.) sind noch heute spürbar und haben die Bundesrepublik nachhaltig geprägt.
Ganz anders im Osten: Nach dem Übergang von „braun" auf „rot" gab es keine Individualisierung und keine „irgendwie geeigneten Umstände". Im Gegenteil: Lässt man die innerparteilichen Erneuerungskonflikte einmal weg, gab es für Menschen, die etwas anders sehen wollten, vor allem einen Ort: die Kirchen. Gleichzeitig gab es mit Ausnahme der kurzen Weimarer Zeit von 1919 bis 1932 praktisch keine demokratischen Erfahrungen im Osten. Und so entstand eine seltsame Konstellation: Man „wollte" zwar Freiheit, hatte aber, außer der ziemlich konkreten Vorstellung von der Reisefreiheit, kaum Ahnung, wie das eigentlich funktioniert.
Die unterschwellige Hoffnung auf den starken Mann
Hinzu kommt, dass zum Zeitpunkt des Umbruchs die große Mehrheit der Christen im Osten Protestanten und nicht Katholiken waren (und auch heute noch sind), und dass sich Protestanten in der Geschichte als deutlich „autoritätsanfälliger" erwiesen haben als Katholiken. Das ist etwas, das Protestanten nicht gern hören, aber der Wahlerfolg der Nationalsozialisten korrelierte vor allem mit einer Variable, nämlich der Frage, ob man Protestant war oder nicht. Die Opposition ging also von einer „für die Hoffnung auf den starken Mann" durchaus anfälligen Geisteshaltung aus. Und die Opposition war eben keine „junge Bewegung" (oder zumindest nicht nur). Das erklärt zumindest zum Teil, warum so mancher ehemalige „Wendepfarrer" spätestens mit der Flüchtlingswelle und/oder der aktuellen Pandemie-Lage zum aktiven Teil der „Anti-Bewegung" wurde: Die Sehnsucht nach Freiheit war seinerzeit sehr verständlich und legitim – und dieser Sehnsucht zu folgen erforderte manchen Mut. Auf den tiefer liegenden Ebenen der Persönlichkeiten und ihrer praktischen Erfahrungen mit Politik blieben aber autoritäre Spuren zurück. Die Sehnsucht nach dem starken Mann kommt, wenn es sich zuspitzt und der Druck wächst, gleichsam durch die Hintertür wieder herein.
Die Sehnsucht nach Freiheit ist dann nach wie vor bewusst („wie damals 1989"), die Affekte sind aber die einer autoritären Sozialisation („die Merkel-Diktatur"). Nein, es ist keine Diktatur, niemand wird für seine oder ihre Meinung abgeführt; aber die „gefühlte Realität" ist eben völlig anders.
Über das nie aufgearbeitete ältere Trauma (zu viel Autorität und die Folgen während der beiden Sozialismen) legt sich der Wunsch nach Freiheit, ohne jedoch die Kulturtechniken zu kennen – nur damit sich jetzt auch noch das „sekundäre Trauma" oder „zusätzliche Trauma" auswirkt, nämlich das der Freiheit mit all ihren Widersprüchen, die aber in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung als andauernder gradueller Verlust der Handlungskontrolle wahrgenommen wurde und zu jener „transzendierten Unterlegenheit" führte, deren Wut sich nun auf aktuelle Themen (Migration, Corona) richtet.
Der Schall der alten Zeit bricht sich an den Wänden neuer Geschehnisse
Bestand das ältere Trauma im Nichterlangen der Handlungsfreiheit, und wurde man quasi auch so erzogen, besteht das neuerliche Trauma im Verlust der Handlungskontrolle. Man weiß zwar nicht, wie man frei handelt, empfindet aber das Fehlen der Handlungskontrolle als Nachteil – nur um eben mit den Gefühlen des Verlustes der Handlungskontrolle auf die Begleiterscheinungen ihres Vorhandenseins zu reagieren. „Wir Deutschen" sind quasi plötzlich Spielball internationaler Entwicklungen (Migration, Corona...), und das „darf" quasi nicht sein. Insofern gab es Freiheit nur in der Vorstellung, wirklich erlangt wurde sie nie.
Die Traumata werden nicht bewusst. Das eine nicht (man wurde ja so erzogen und hat das nicht realisiert; die entsprechenden „Aufarbeitungsrituale" kommen einem lächerlich vor), und das andere auch nicht, denn man wollte ja Freiheit, wurde aber um den Verlust der eigenen Handlungskontrolle quasi „gekauft", und zwar ohne das zu beabsichtigen (was m.E. für alle Beteiligten gilt).
In Bezug auf die Handlungskontrolle gibt es nun eine Art transzendierter Unterlegenheit: Man reagiert auf neue Probleme mit nie aufgearbeiteten Reaktionsmustern aus der Vergangenheit.
Das ist dann das „Echo" des Traumas: Die Spuren des alten Traumas bilden quasi die Reaktionen auf das neue Trauma – was dadurch wiederum nicht „drankommt", nicht zum Thema werden kann. Der Schall der alten Zeit bricht sich so an den Wänden neuer Geschehnisse. Die erste Betroffenheit führt unbewusst zum Echo in Gestalt einer zweiten Betroffenheit.
Was bedeutet das praktisch?
Wenn an dem bisher Gesagten etwas dran ist, könnte man nun fragen, was daraus folgt, was das beispielsweise für die Gesellschaft bedeutet, wie Menschen aus den gegenwärtigen Polarisierungen wieder herauskommen könnten oder wie man praktisch mit der aktuellen Lage in Sachsen umgehen kann.
Was das für die Gesellschaft bedeutet, ist meines Erachtens relativ klar: Es wird so schnell nicht weggehen. Wenn es sich, wie ich hier behaupte, wirklich um eine Art traumatischer Reaktion handelt, dann muss man feststellen, dass das Wesen eines Traumas ja darin besteht, dass man alles zwanghaft wiederholen muss. Es steht also zu erwarten, dass das bei jedem neuen Thema erstmal so weitergeht. Migration, Corona... und was kommt als Nächstes? Das wissen wir zwar nicht, aber wir können ahnen, dass es auf absehbare Zeit nicht besser wird.
Ich höre schon die Frage, was man da tun kann. Allerdings möchte ich dazu zunächst anmerken, dass viele allzu schnell dabei sind, die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten zu stellen. Es ist geradezu eine Gewohnheit, diese Frage zu stellen. Oft genug hilft diese Frage aber nicht, weil die – in der Regel allzu erwartbaren – Antworten nur ein Trost für diejenigen sind, die diese Frage stellen. Etwas vereinfacht und zugespitzt folgt ein entsprechender Dialog diesem Muster: „Man muss da etwas machen!" - "Aber was soll man machen?" – „Naja, man muss doch da etwas machen!" Diese Haltung ist, so fürchte ich, Teil des Problems.
Diejenigen, die meinen, dass man hier etwas machen müsse, meinen oft nur Belehrungen – denn allein die Behauptung, dass man etwas machen müsse, impliziert ja, dass mit den Aussagen oder Standpunkten der jeweils anderen Seite etwas nicht stimmt. Wenn ich aber annehme, dass mit der anderen Seite etwas nicht stimmt, dann impliziert das (a), dass ich es besser weiß, und dass (b) so ziemlich alles, was ich danach sage, vom Gegenüber als Belehrung empfunden wird. Auf der jeweils anderen Seite sieht es oft genug genauso aus: Die Annahmen, die getroffen werden, sind oft genereller Natur. Auf diese Weise geht – auf beiden Seiten – der Realitätsbezug verloren. Weil „es" ja nun mal so ist – man bezieht sich dann gern auf „Fakten" – könne man mit der jeweils anderen Seite nicht reden, weil diese Seite ja die Fakten ignoriere oder auf „alternativen Fakten" beruhende Annahmen treffe. Und so weiter.
Ja, die Lage ist schwierig, und man kommt gegen manifeste Haltungen schwer an. Aber indem man manifesten Haltungen „bessere" (= in den Augen des Gegenübers: manifeste) Haltungen gegenüberstellt, kommt diese Vorgehensweise einer (wechselseitigen) Konfrontation gleich und führt also zu einer Eskalation.
Es hilft nichts, über gute Kommunikation zu reden, gute Kommunikation muss man machen
Im Grunde leben wir alle im selben Land und handeln alle auf der Grundlage der gleichen Verfassung. Auf dieser Grundlage können – und sollten – wir auch streiten. Aber wir geraten zunehmend in die Situation, uns gegenseitig abzusprechen, auf einer gemeinsamen Grundlage zu handeln.
Man kann die Verfassung als eine Art „Boden" verstehen, auf dem wir alle stehen. Um diesen Boden herum gibt es Grauzonen, in denen sich viele bewegen, die manche Elemente unserer Demokratie bezweifeln oder das „System" mehr oder weniger stark kritisieren. Außerhalb der Grauzone gibt es dann noch einen „roten" Bereich, in dem sich diejenigen bewegen, die die Grundlagen unseres Zusammenlebens nicht nur infrage stellen, sondern aktiv abschaffen möchten – und im schlimmsten Fall diesem Wunsch auch aktive Handlungen folgen lassen, also „angreifen".
Man kann, was den praktischen Umgang mit Polarisierungen betrifft, grundsätzlich zwischen zwei Möglichkeiten wählen: Man kann einen versöhnlichen oder einen unversöhnlichen Weg gehen.
Wenn man den versöhnlichen Weg gehen wollte, müsste man mehr zuhören als belehren. Dann gilt: Über gute Kommunikation kann man nicht reden, gute Kommunikation muss man machen. Anders formuliert: Bildungsmaßnahmen helfen bei entsprechend „stabil andersmeinenden" Personen gar nichts. Bleibt man hingegen zugewandt genug, hört zu und stellt die eigene Meinung ohne belehrenden Unterton neben die andere Meinung, bleibt das Miteinander intakt. Im gelingenden Fall hungert man auf diese Weise das Eskalationsbedürfnis der anderen Seite aus, und man behält eine gemeinsame Handlungsgrundlage, auch wenn das Handeln dann von Kompromissen geprägt ist. Aber ist das nicht der – bisweilen schwer zu ertragende, aber eben grundlegende – Funktionsmodus einer Demokratie?
Ich höre schon die kritischen Stimmen: Dieser Weg sei opportunistisch und führe zu Kompromissen, die gleichsam ein „Scharnier" zu radikaleren Sichtweisen darstellen und diese damit erst – oder weiterhin – ermöglichen. Ich fürchte, es bleibt dennoch der mögliche Weg im Umgang mit dem Personenkreis in den Grauzonen, um noch mehr Abwanderung in die „grauroten" oder „rotgrauen" Gebiete zu verhindern.
Steht erst einmal jemand jenseits des beschriebenen Bodens der Verfassung im „roten" Bereich, bleibt denjenigen auf dem Boden der Verfassung nur der unversöhnliche Weg, der letztlich bedeutet, sich gar nicht auf die Sichtweise der anderen Seite einzulassen, sondern die Grundsätze der Demokratie zu betonen und diese Grundsätze im Zweifelsfall zu verteidigen (bspw. durch Ausschluss entsprechender Personen aus demokratisch legitimierten Organisationen). Dann wird eben nicht zugehört, sondern mit klaren Ansagen agiert – und im Extremfall auch einmal abgeführt.
Die „vermeintlich Guten" sind Teil des Problems
Problematisch ist hier dreierlei: Zum Einen fordern die „vermeintlich Rechthabenden" zu oft, dass der unversöhnliche Weg gegangen werden sollte, weil sie auch manche mildere Form von Infragestellung oder Kritik für radikal halten. Das verwäscht die Grenzen und macht die Kriterien für den Anwendungsfall beliebig. Es ist insbesondere dann schädlich, wenn die entsprechende Kritik nur „rhetorisch" ist, also beispielsweise vornehmlich der Aufmerksamkeitssteigerung dient.
Zum Anderen sind kaum klare Mandate zu bekommen, weil kaum eine Forderung nach „strafferen" Umgangsweisen einer rechtlichen Prüfung standhält. Unsere Demokratie verteidigt sich nicht, sondern lässt einen Kreislauf aus immer weiteren gegenseitigen Hinterfragungen und Anprangerungen zu, was die Demokratie weiter schwächt und autoritäre Staaten wie Russland oder China in den Augen zumindest mancher Menschen gut aussehen lässt.
Hinzu kommt drittens, dass die tatsächlichen Vorgehensweisen zwischen beiden Wegen mäandern: Man will zuhören, droht aber gleichzeitig. Dann hört man zu, will aber bei Extremfällen nicht so genau hinschauen und traut sich im Bedarfsfall nicht, Konsequenzen anzuwenden. Dann lässt man den Drohungen vielleicht doch ein paar Taten folgen, aber am harten Ende der Fahnenstange passiert irgendwie doch kaum etwas.
Die Folge? Das, was wir für richtig und falsch halten, und das, was in unserer Gesellschaft als selbstverständlich (Regeln) bzw. im eskalierenden Zweifelsfall als erwartbar (Konsequenzen) gilt, gerät durcheinander, erodiert. Später weiß kaum jemand mehr, was eigentlich Sache ist, während manche Vertreterinnen und Vertreter des „roten" Bereichs meinen, nun gerade alles Mögliche sagen und tun zu dürfen – oft genug genau wissend, dass es außerhalb des demokratisch Möglichen liegt.
In Sachsen ist es einstweilen zu spät
Persönlich denke ich, dass es in Sachsen für „zuhören" an vielen Stellen zu spät ist. Der Zug der Empörung rollt, und er rollt erstmal durch. Ein – je nach Perspektive glücklicher oder eben unglücklicher – Umstand ist, dass es keine großen Mengen chancenloser Menschen gibt, die keinen Platz in der Gesellschaft finden. Das wäre womöglich der Brandsatz, der zur tatsächlichen Revolte – konkret beispielsweise zum "SÄXIT" – führen könnte. Viele der gegenwärtigen Rebellen ziehen demnächst in keine Revolution, sondern ins Altersheim. (Ob dieses Argument hält, wird man sehen. Immerhin gibt es ja durchaus signifikante Erfolge, die mit derzeit populären EU-skeptischen oder migrationskritischen oder den Klimawandel ignorierenden Standpunkten erzielt werden.)
Damit sind wir bei den Fakten, um die niemand von uns herumkommt, ganz gleich von welcher Seite sie oder er die Sache sieht oder anpacken möchte: Seit der Wende bekommen Menschen in Ostdeutschland so wenige Kinder, dass die Arbeitsplatzsituation der Neunziger Jahre dieser Tage dabei ist, sich ins Gegenteil zu verkehren. Die Folge: Viele, auch für die Daseinsvorsorge grundlegende, Branchen finden immer weniger oder gar keine Leute mehr. Wenn man also die Zukunft Sachsens oder anderer ostdeutscher Bundesländer weiterdenken möchte – und zwar nicht nur affektiv, wie manche Oppositionspartei, die sich den Luxus leisten kann, mehr oder minder „nur dagegen" zu sein – sondern auch rational (= auf Machbarkeit und Begründung beruhend und in der Demokratie deshalb auf Kompromisse angewiesen), dann besteht das Bild von der Zukunft auch und vor allem in einer demographischen Rechenaufgabe. Und auch wenn der wissenschaftlichen Statistik dieser Tage viele Zweifel entgegengebracht werden – spätestens die demographische Faktenlage lässt sich nicht wegdiskutieren: Wie soll Sachsen in 20 Jahren funktionieren? Kämen wir wirklich ohne Zuwanderung hin? Und wenn ja, wie? Und wenn nein, wie könnte man Zuwanderung praktisch organisieren angesichts des gegenwärtigen Images des Freistaats Sachsen bei potentiellen Zuwanderern?
Klar geht es auch mit weniger Leuten. Im Grunde ist es egal, ob in einem Landkreis wie Görlitz nur 150 statt 250 Tausend Menschen leben. (Kleine Einschränkung: Manche Infrastrukturen wie z.B. Kläranlagen brauchen eine bestimmte Auslastung, um zu funktionieren, aber das ist vielleicht nur ein Problem für Ingenieure.) Aber was passiert, wenn von diesen weniger Menschen noch weniger bestimmte – für die Daseinsvorsorge elementare – Jobs machen wollen? Und wenn dann bestimmte Infrastrukturen aufgrund mangelnder Besetzung bzw. aufgrund wegbrechender Finanzierungsgrundlagen einfach „wegfusioniert" werden und demnächst nur noch in der übernächsten Kreisstadt zu finden sind – oder anders formuliert: Wenn das Pflegeheim um die Ecke Kapazitäten abmelden muss, weil einfach keine Fachkräfte mehr da sind – was ist dann?
Ich denke, wir müssen uns ernsthaft fragen, wie unsere Heimat in 20 Jahren aussehen soll. Und ja, das ist schwierig genug. Sich diese Frage zu stellen, ruft ambivalente Gefühle hervor. Aber angenommen, wir leben gerne hier (was ich tue), dann können wir nicht nur davon ausgehen, wie wir uns gerade fühlen, sondern müssen uns auch fragen, wie es weitergeht. Da sind wir bei dem alten Streit zwischen denen, die sagen, wir müssen die Welt bewahren, wie sie ist, und wir sollten uns, wenn überhaupt, nur langsam verändern, und jenen, die meinen, dass man sich in die Zukunft versetzen muss, damit man weiß, wohin es geht, um sich dann zu fragen, was man will.
Ganz gleich, wie wir die Dinge sehen: Die Zukunftsfragen stellen sich trotzdem
Alle uns bekannten Dinge auf dieser Welt, so auch unsere „Heimat", erhalten ihre Bedeutung durch die Beziehung, die wir zu ihnen haben. In Bezug auf den Begriff „Heimat" gibt es grundsätzlich folgende Möglichkeiten: es gibt eine „Wahlverwandtschaft" (also die Entscheidung, dass eine Region meine Heimat ist), oder eine „gewachsene Verwandtschaft", die letztlich darauf beruht, hineingeboren zu sein. Bei der „gewachsenen Verwandtschaft" gibt es irgendwann eine mehr oder minder bewusste Entscheidung für oder gegen die Region. Natürlich besteht bei der gewachsenen Verwandtschaft keine „Pflicht" im wörtlichen Sinne, wir sind ja nicht mehr in der DDR; man kann einfach in einer Region geboren sein und das nicht infrage stellen. Man kann auch hineingeboren sein und sich dagegen entscheiden, dann geht man weg – und kommt unter bestimmten Umständen irgendwann zurück oder bleibt weg. Man kann auch woanders geboren sein und sich für die Region entscheiden. Fakt ist, dass die Geburt in der Region nicht reicht, im Gegenteil: Zu bleiben oder zu gehen – oder von woanders herzukommen oder hierher zurückzukehren – wird allzu oft zu einer Entscheidung.
Von der Zukunft her gedacht sollten sich die Gestalter und Entscheider einer Region also fragen, was ihre Gegend, Region, Stadt usw. attraktiv macht. Hier beginnt meines Erachtens die Übung: Man versetze sich in das Jahr 2030, schaue zurück und frage sich, was man heute dafür tun kann, damit die Weichen für 2030 optimal gestellt sind.
Was müssten wir also tun, um 2030 für junge Leute von hier und relevante Zielgruppen von außerhalb attraktiv zu sein? Und nein, ins slawischsprachige Ausland zu schauen reicht nicht, diese Leute sind ja schon hier, und in den infrage kommenden Ländern herrscht auf absehbare Zeit Vollbeschäftigung. Positiv ist zu vermerken, dass sich die Vorurteile in Bezug auf die genannten Gruppen in den vergangenen 20 Jahren deutlich verringert haben.
Aber das allein hilft wie gesagt nichts – oder nur wenig. Wir müssten unseren Horizont deutlich erweitern – und es den Ankommenden entsprechend schmackhaft und angenehm machen. Aber wie soll man das derzeit negative Image Sachsens korrigieren? Und krasser noch: Wie soll man infrage kommende Menschen von außerhalb einarbeiten, damit die Abbrecher-Rate nicht so hoch bleibt, wie sie oft ist? Wir bräuchten eine Art spezifischer Willkommens-Kultur – keine generelle; man soll sich die Leute, wenn es um wirtschaftlich motivierte Migration geht, schon aussuchen können, aber wir müssten uns wirklich den Kopf darüber zerbrechen, wie das Ankommen gelingen kann – und für einen möglichst häufigen Gelingensfall aussehen soll.
Dazu müsste man aber mindestens zwischen Migranten und Flüchtlingen unterscheiden. Für einen Migranten oder eine Migrantin, die oder der etwas kann, was wir hier brauchen, müsste man entsprechende Maßstäbe anlegen. Für die anschließenden Prozesse würde man sich dann fragen, wie diese gestaltet sein müssten, damit Bindung und – sofern gewünscht – Integration entstehen kann. Das wäre für eine Steigerung der Bleibewahrscheinlichkeit ziemlich wichtig. Wenn wir für Migranten attraktiv sein wollten, müssten wir viel dafür tun. Migranten sind nämlich keine Flüchtlinge und wollen in der Regel auch nicht mit Flüchtlingen verwechselt werden. Migranten bewegen sich, weil sie besser oder anders leben wollen, ihren Beruf in einem anderen Land ausüben wollen, weil sie Erfahrungen machen wollen. Die qualifizierten Migranten des 21. Jahrhunderts sind keine Bittsteller, sie werden uns nicht dankbar sein, sondern sie ziehen, wenn es nicht klappt, einfach weiter.
Bei Flüchtlingen sieht das anders aus, hier ist im anerkennungswürdigen Fall von veritablen Gründen auszugehen, vorübergehend oder dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Die Anschlussfähigkeit zum ersten Arbeitsmarkt oder das Entwicklungspotential auf dem zweiten Arbeitsmarkt sind hier zunächst überhaupt nicht entscheidend und später sekundärer Natur. Deshalb lohnt sich die Unterscheidung zwischen Migranten und Flüchtlingen, sie wird aber derzeit sowohl von der Pro- als auch von der Contra-Fraktion abgelehnt, nur jeweils aus unterschiedlichen Gründen. Anstatt uns mit wesentlichen Fragen zu beschäftigen, eröffnen wir lieber eine höchst periphere begriffliche Diskussion (Flüchtlinge vs. Geflüchtete) und tun dann so, als wäre das eine der zentralen Fragen überhaupt.
Welche Zukunft wollen Sie? Und wie entscheiden Sie sich?
Ehrlich gesagt sehe ich derzeit nicht, wie das in Sachsen praktisch funktionieren soll. Theoretisch wäre ja eine positive Version von der Zukunft Sachsens denkbar: Man könnte sich vorstellen, etwas aus dem Schwund zu machen. Dadurch entstehen Freiräume, könnte man denken. Man könnte sich zudem vorstellen, dass dem Umstand, etwas „neben der Zeit“ zu liegen, etwas abzugewinnen sei. Aber wie soll das bitte gehen: ein positives Bild für Schrumpfungsprozesse? Wo doch – allen voran manche regionale Medien – SO viele Leute schlechte Laune haben, wenn es um die Zukunft geht?
Klar: Es ist allzu menschlich, vor allem das zu sehen, was man verliert. Es ist schwer, ein positives Bild davon zu haben, was man gewinnt, wenn etwas weniger wird – nur um sich dann noch vorzustellen, offen für andere zu sein, die neben mir oder gar an meiner Statt die Zukunft meiner Heimat gestalten.
Eine böse Anmerkung in diesem Zusammenhang ist, dass, wenn man sich einmal die Geschichte des Territoriums anschaut, das heute Sachsen ist, man so viele Einflüsse und Migrationsbewegungen findet, dass einem schwindelig wird. Mindestens ein Viertel, wahrscheinlich ein Drittel hat mehr oder weniger direkte slawische Vorfahren. Dazu all die Migranten und Flüchtlinge aus den vergangenen Jahrhunderten, durch die die vielen regionalen Färbungen des Sächsischen entstanden sind: Wer sich sicher wähnt, dass das mit der „Heimat" im „deutschen" Sinne funktioniert, werfe den ersten Stein. Man würde mit Sicherheit die Falschen treffen – und sehr wahrscheinlich auch sich selbst.
Im praktischen Sinne viel problematischer jedoch ist, dass viele „einfach so" schlechte Laune haben – übrigens auch Journalisten oder Regionalpolitiker. Man kann so viele innovative Ideen oder gut gemeinte Ziele haben, wie man möchte – hat man dabei schlechte Laune, schlägt das direkt auf das Image zurück. In Verbindung mit neuen Ideen wird man für schlechte Laune direkt negativ beurteilt.
Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen ist die Frage, was man machen kann, obsolet. Man kann nichts „machen" in diesem Sinne. Das Ding rollt, und man wird sehen, wohin und wie lange es rollt. Worauf man sich hingegen verlassen kann, ist, dass sich die Welt trotzdem ändert. Der demographische Faktor schafft Freiräume und Gelegenheiten. Natürlich wird es manches leere Dorf geben, und natürlich wird es erstmal „weniger". Aber dann gibt es Anpassungs- und Gewöhnungsprozesse – und neue Bewegungen. Dann sitzen wie gesagt viele der gegenwärtig Empörten im Altersheim, und es werden andere kommen, die die Region gestalten. Weder werden signifikante Großinvestitionen passieren, die die Braunkohle ersetzen und das Bevölkerungslevel wieder heben, noch werden die ländlichen Lagen Sachsens völlig veröden.
In der stoischen Philosophie gibt es den Spruch, dass jedes Ding zwei Seiten hat - die, von der aus man das Ding anfassen kann, und die, von der aus man das Ding nicht anfassen kann. Also ist es eine Entscheidung, immer wieder von Neuem.
Welche Fragen helfen könnten
Von Michail Gorbatschow stammt die Einsicht, dass das Leben diejenigen bestraft, die zu spät kommen. Die Sachsen kamen 1989 alles andere als zu spät, als sie die Wende in Gang setzten. Aber wenn sich, wie ich in diesem Text behaupte, bei einem Teil der Bevölkerung ein neueres Trauma mit dem Echo eines älteren verbunden hat, ohne dass dies tatsächlich bewusst wäre, dann befinden sich viele Sachsen mehr oder minder unbemerkt in einer Wiederholungsschleife – und kommen zu spät, wenn es um die Zukunft geht. Das muss nicht schlecht sein, wenn man sich damit abfindet, dass man etwas marginalisiert neben der Zeit lebt. Aber wenn man eine positive Vorstellung von der Zukunft haben möchte, dann wird dies zu einer Entscheidung, und zwar entlang der folgenden Fragen: Will man Emotionen nachgeben, oder macht man sich aktiv Gedanken? Und wenn Letzteres: Erträgt man, dass man an der einen oder anderen Stelle – gefühlt oder de facto – auch falsch liegen kann?
Will man sich fragen, was die Zukunft wahrscheinlich bringt und wie man darauf reagieren möchte? Freilich geht es da zunächst nur um Trends, aber einige Entwicklungen sind sicherer absehbar als andere. Und wenn man sich diese Frage stellen will: Welche Annahmen ergeben sich daraus? Welches Bild von der Zukunft will man wählen?
Wenn diese Wahl klar ist, kann man sich fragen, was das praktisch bedeutet, und zwar zunächst für einen selbst ganz persönlich und für die eigene Familie. Im zweiten Schritt kann man sich fragen, was das für die ggf. ausgeübte berufliche, ehrenamtliche oder politische Rolle bedeutet. Man kann sich an dieser Stelle natürlich auch fragen, was das für die Erziehung der eigenen Kinder bedeutet.
Wenn man – hauptberufliche, ehrenamtliche oder politische – Führungskraft ist, muss man sich m.E. zudem fragen, was das für die eigene Organisation bedeutet: Welche Ziele und Leitprinzipien hat die Organisation momentan? Wie möchte ich diese Prinzipien angesichts der vorangegangenen Überlegungen weiterentwickeln? Welche Ziele und welche Werte ergeben sich daraus? Welche ggf. sonstigen Schlussfolgerungen?
Letztlich: An welchen Handlungen merke ich, dass ich meinem Bild von der Zukunft meiner Region folge? Als Führungskraft: Entsprechen meine konkreten Handlungen den formulierten Zielen und Werten?
Im Prinzip bedeutet diese Vorgehensweise eine Reflexion der aktuellen Trends, eine Positionierung zum Thema Veränderungsnotwendigkeit sowie ggf. eine Ableitung entsprechender Ziele, Werte und Handlungen. Der Dreiklang Ziele - Werte - Handlungen kann in der Praxis wie ein Maßstab angewendet werden, indem sich handelnde Personen immer wieder fragen, inwiefern eine konkrete Handlung den formulierten Zielen und Werten entspricht.
Wo soll es hingehen und wozu?
Auch wenn ich selbst nicht allzu optimistisch bin, meine ich, dass sich jede und jeder von uns entscheiden kann, wie die Zukunft Sachsens zu sehen ist und welche Ziele ggf. für das eigene Handeln formuliert werden können. Wenn dies viele tun – vom Ministerpräsidenten bis zur Sachbearbeiterin in der Ausländerbehörde, von der Geschäftsführerin eines Unternehmens bis zum Schweißer, der einen Lehrling mit Flüchtlingsstatus ausbilden soll – dann wäre schon viel geholfen. Wenn es zudem noch ein öffentlich wirksames Bild davon gäbe, wo es mit Sachsen hingehen soll, dann wäre dies noch besser. Vielfalt funktioniert nicht um ihrer selbst willen, ist kein Selbstzweck. Aber mit einer Vorstellung, wozu man was möchte, funktioniert der Weg in die Zukunft besser. Ich argumentiere hier nicht für ein per se vielfältiges, wohl aber für ein zukunftsfähiges Sachsen. Anstatt uns von Corona weiter die Laune verderben zu lassen, sollten wir darüber diskutieren, wie unser Land aussehen soll und wie wir dorthin kommen.
Kommentare
Jörg, du sprichst als eine Ursache für den Frust der Menschen ein mangelndes Demokratieverständnis in Ostdeutschland an. Hatten wir nicht in den vergangenen 30 Jahren Zeit, das zu lernen?
Generell ein mangelndes Demokratieverständnis zu unterstellen, halte ich für übertrieben. Ich glaube, es gibt im Osten bei Teilen der Bevölkerung andere Erwartungen an den Staat. In mancher Hinsicht möchten viele vom Staat eher in Ruhe gelassen werden, was bei den Corona-Regeln deutlich wird, in anderen Fällen möchte man einen deutlich stärkeren Staat, beim Thema Migration etwa. Das mag von Weitem betrachtet ambivalent wirken, aus einer speziell ostdeutschen Sicht ist es das aber nicht, weil der Staat für Teile der Bevölkerung nichts mehr richtig machen kann. Das wird dann plausibel, wenn man versteht, was nach der Wende passiert ist. Den meisten war seinerzeit klar, was sie nicht mehr wollten, aber sie hatten gleichzeitig nur oberflächliche Vorstellungen von dem, was sie bekommen würden. Manche kamen mit den neuen Bedingungen klar und wurden erfolgreich, andere wurden enttäuscht. Und obwohl die Übernahme ostdeutscher Betriebe durch westdeutsche Unternehmen und die hohen Sozialleistungen bzw. die großen Summen für den Aufbau Ost gut gemeint waren, haben sie ein Gefühl der Unterlegenheit geschaffen. Gleichzeitig sind die Ostdeutschen ja nicht nur der Bundesrepublik beigetreten, sondern hat sich die Gesellschaft seitdem insgesamt stark verändert. Zudem hat man, zumindest in Sachsen, die Bedeutung politischer Bildung massiv unterschätzt. So kommt es, dass viele Menschen, bei Weitem nicht alle, aber ein signifikanter Teil der Gesellschaft, heute auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen mit Emotionen aus der Vergangenheit reagiert. Ein Teil unserer sozialistisch geprägten Seelen ist nie im Westen angekommen und zaubert nun unbewusst andere Ordnungsvorstellungen aus dem Hut. Deshalb auch die Begeisterung mancher Menschen für Putin. Die Distanz mancher Menschen zum Staat ist mittlerweile, besonders in Sachsen, so stark, dass Regierungen machen können, was sie wollen, sie können nichts mehr richtig machen. Deshalb wirkt das so ambivalent. Man hätte gern wieder Ordnung. Das ewige Diskutieren und Relativieren und das Mäandern durch eine Krise nach der anderen ist für viele Menschen unerträglich, und ihre Antwort sind alternative Ordnungsvorstellungen – die sich unbewusst aus den in der Jugend während des Sozialismus geprägten Werten speisen. Der Sozialismus hat die Menschen vor allem auf Idealzustände geprägt. Man war auf dem Weg zum idealen sozialistischen Menschen. Dass das alles nicht gestimmt hat und gar verbrecherische Ausmaße hatte, wird dabei vergessen. Aus diesen seinerzeit geprägten Ordnungsvorstellungen ergeben sich die Emotionen, mit der man auf die heutige gefühlte Unordnung reagiert.
Auf der einen Seite sind Stimmen nach Freiheit und gegen das System laut geworden. Auf der anderen Seite schreibst du, es gibt die Forderung nach dem starken Mann an der Spitze. Wie passt das zusammen?
Man hat 1989 zu Recht nach Freiheit gerufen, auch und besonders in Sachsen. Aber Freiheit fordert Menschen viel ab. Man kann sich das ungefähr so vorstellen: Nach der Wende gab es die, die die Freiheit begrüßt haben und erfolgreich wurden, es gab aber auch andere, die mit den „neuen Kulturtechniken“ nicht so gut klarkamen. Und dann gab es die, die sich ganz abgewandt haben. Welchen Weg man auch immer gegangen ist, irgendwann entstand ein Gefühl der Unterlegenheit. Man stand nicht so gut in den Startlöchern wie die Leute aus dem Westen, die für die neuen Positionen im Osten die richtigeren Qualifikationen hatten. Man brauchte länger, ging weitere Wege, hatte zu kämpfen, um überhaupt einen einigermaßen bezahlten Job zu bekommen usw. Freilich gab es die Reisefreiheit und neue Autos, und freilich gab es den Aufbau Ost und die Sozialleistungen. Aber viele Ostdeutsche sind irgendwo auf der Strecke stehen geblieben und haben sich umgeschaut: Das war irgendwie doch nicht ganz ihr Land. Also begannen sie, vom „alten Land“ zu reden, und was seinerzeit anders war. Man kam sich zunehmend fremd vor, und zwar nicht mehr nur, was die „neuen Kulturtechniken“ betrifft, die man bspw. in Tausenden von Bewerbungstrainings erlernt hatte, sondern auch bezüglich der neueren gesellschaftlichen Themen (Gender-Debatte, EU-Gesetzgebung usw.). Und dann passierte bei Teilen der Bevölkerung etwas, das die heutige Wut plausibel macht. Man erkannte in den Gesichtern jener Flüchtlinge, die 2015 „Deutschland, Deutschland“ riefen, jene Hoffnung, die man selbst einmal gehabt hatte, aus der aber zumindest teilweise Enttäuschung wurde. So etwas macht wütend: „Die da oben sollen sich erstmal vernünftig um die Leute in ihrem Land kümmern, bevor sie hier so viele neue Leute rein lassen!“ Das Unterlegenheitsgefühl basiert ja nicht auf einem einzigen auslösenden Ereignis, sondern aus vielen verschiedenen Erlebnissen, aber es ist eben ein Gefühl, das viele haben, und das spätestens seit 2015 eine Projektionsfläche findet. Und was passiert, wenn jemand wütend ist und die politischen Bedingungen, wie sie sind, mindestens bezweifelt? Man erinnert sich an das, was man auch noch hat, nämlich jene Ordnungsvorstellungen, die man in der Jugend vermittelt bekommen hat. Das erklärt die Sehnsucht nach dem starken Mann. Man hat Freiheit nicht so recht erlernt. Das plötzliche Klarkommen-Müssen mit den Bedingungen nach der Wende war für viele auch wirklich schwer, zum Beispiel sind viele Arbeitgeber mit ihren Leuten im Osten alles andere als nett umgegangen. Und nun lebt man in einer Gesellschaft, die zwar frei ist, aber von der man enttäuscht wurde und deren Kulturtechniken einem zumindest zum Teil fremd geblieben sind. Diese Enttäuschung und die Fremdheit sind nicht die einzigen Reaktionen auf die Freiheit, aber sie sind unter vielen Ostdeutschen verbreitet, mal stärker und mal weniger stark. Das Paradoxe daran: Man verdeckt die eigenen Reaktionen auf die Freiheit, also Enttäuschung, Fremdheit und das Unterlegenheitsgefühl, durch einen neuerlichen Ruf nach Freiheit. Man lehnt die Demokratie ab, indem man Freiheit fordert, sich aber nach Ordnung und „starken Verhältnissen“ sehnt.