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Über den Cottbuser Tellerrand tanzend

Über den Cottbuser Tellerrand tanzend

»Ein Portrait über die Cottbuser Choreografin Golde Grunske«

Zur Person Golde Grunske

  • geboren und aufgewachsen 1975 in Leipzig
  • absolvierte ein Studium zur „Dipl.-Bibliothekarin für Wissenschaftliche Bibliotheken“ an der Humboldt-Universität Berlin 1999

Künstlerische Meilensteine:

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Golde Grunske im Workshop des Chance-Tanz-Projekts „Tanz im Quartier“, 2019. © Stefan Bremer
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Cottbuser Ostsee. Blick von ehemals Klein Lieskow © Claudia Arndt

Begeisterungsfähigkeit für das Nicht-Sichtbare

Golde und ich fahren gemeinsam in ihrem Mercedes Sprinter in den Tagebau, um uns dort treiben zu lassen. Reinfallen lassen in die Landschaft und Begegnungen, die wir vor Ort vorfinden. „Dérive“
nennt man diese Methode des fragenden Voranschreitens. Dadurch ist es möglich, die vorgefundene Landschaft nicht als gegebene Struktur zu behandeln, sondern vielmehr als ein Raum voller Affekte. Eine Methode, die sich auch die qualitative Forschung in ethnographischen Feldern zunutze macht. Dieser Tag ist ein Tag voller Affekte. Ein besonderer Tag, nicht nur, weil unsere Inhalte, über die wir sprechen werden, sich über Heimat und Flucht, das Gefühl von Geborgenheit und was Kultur eigentlich ausmacht, drehen. Sondern auch ein geschichtsträchtiger Tag, der 24. Februar 2022, der Tag, an dem der russische Überfall in der Ukraine erfolgte.

Ich habe Golde vor fast genau drei Jahren persönlich kennengelernt, mit dem Anliegen, ein gemeinsames Tanzprojekt für Kinder und Jugendliche zu verwirklichen. Unser erstes persönliches Gespräch war in ihren Studioräumen in der Tanzwerkstatt in Cottbus und unser heutiges hat das Ziel herauszufinden, was Tanz eigentlich mit dem Tagebau beziehungsweise dem voranschreitenden Strukturwandel in der Lausitz gemein hat.

Golde stammt nicht aus der Lausitz, sondern ist in Leipzig groß geworden. Ihre künstlerischen Meilensteine führten sie über Berliner Bühnen und Studioräume 2003 gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern nach Cottbus. Sie sagt, dass sie „die Lausitz gar nicht so als Lausitz begriffen“ hatte, als sie in Cottbus angekommen war, und dass es ihr Wunsch war, diese Lausitz auch als neue Heimat begreifen zu können. Das Thema Entwurzelung beschäftigt sie seit ihrer Jugend, und die sich daran anschließenden Fragen nach Heimatverlust und Flucht werden auch in ihren Choreografien seit 2015 zum Gegenstand gemacht.

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Grunskes Blick in die Mondlandschaft des Cottbuser Ostsees © Claudia Arndt

„Nur einmal machte man mich sprachlos. Das war, als mich jemand fragte: "Wer bist du?" (Khalil Gibran)

Wir lassen uns als Erstes durch das kleine Dorf Schlichow treiben. Es liegt am ehemaligen Tagebaurand Cottbus-Nord und ist circa fünf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Schlichower Dorfstraße führt uns zunächst zum Lärmschutzdamm und damit zum sogenannten Schlichower „Ostseeblick“. Sonne und Wind unterstreichen an diesem Morgen den weiten Blick in die Mondlandschaft des ehemaligen Tagebaus bis hin zu den noch aktiven „Kanonenrohren“ des Tagebaus Jänschwalde.

Mit Erreichen der Dammkrone beginnt Golde augenblicklich von den Recherchearbeiten aus dem Jahr 2015 zu berichten. Wie sie gemeinsam mit ihrem Ensemble in den Tagebau reingeklettert sei, um Sand und Kohle rauszuholen, jenes Material, welches auch später im Stück “Ankommen“ Verwendung fand. Ein Fünkchen Illegalität räumt sie dieser Kletteraktion ein. Dennoch hatte das Generieren des Materials für die Performance die oberste Priorität.

Die Aufführungen der Tanzkompanie Golde G. finden nicht an herkömmlichen Bühnenorten statt. Dafür werden die Menschen vor Ort, am besten sogar noch vor ihrer eigenen Haustür, mit Kunst und Tanz konfrontiert. In Museen, Industriehallen, auf Marktplätzen oder auch im alten Dorfkrug sollen Zuschauende sich von den Performances begeistern, pikieren, aufregen und mitreißen lassen.

Bereits vor dem offiziell beschlossenen Kohleausstieg im Jahr 2018 war für Golde der Strukturwandel ein elementares Thema in ihrer Arbeit. Ihre Kompanie führte unter anderem vor den Betroffenen des umgesiedelten kleinen Dorfes Horno im „neuen“ Hornoer Dorfkrug ihre Performance auf. Die Reaktion der Menschen vor Ort waren sehr emotional geleitet. Eine große Welle der Dankbarkeit erreichte die Künstler:innen; denn Tanzen, ob nun aktiv ausführend oder passiv zusehend, trifft nun mal die Seele. „Und das Seelische selbst kannst du ja nicht entschädigen“, konstatiert Golde.

Wo findet sich ein Gefühl von Heimat wieder?


Auf die Uferkante blickend, fragt sie sich, was das für ein Lärm für die Anwohner gewesen sein muss und was diese über viele Jahre aushalten mussten. Und nun ist da diese scheinbare Idylle. Ihr Blick schweift in die Weite über die verschwundenen Orte, die die Kohlebagger auffraßen. „Die Heimatverlust-Geschichte. Wo fängt man an? Wo hört man auf? Das Aufbrechen der Erde. Was wegnehmen? Was wegschaffen und es kommt nicht wieder. Es ist wirklich weg“, so beschreibt es Golde. Was sie damals in der Recherche sehr beschäftigte, war vor allem die Frage, was passiert, wenn du deine Heimat nie wieder besuchen kannst. Ein großer emotionaler Faktor, denn mit „zu Hause“ assoziiert nicht nur Gundermann in seinen Tagebauliedern Geborgenheit und Rückzug, Erholung, Erinnerungen und Empfindungen, Gefühle und Gerüche, Bindungen zu Menschen, sondern auch Golde ihre Arbeitsprozesse – bis hin zu der Frage: Was bedeutet Heimat für sie persönlich? Diese Identitätsfrage nahm Golde vier Jahre später auch in dem Stück „In Zeiten wie diesen“ auf. Dabei wurde ihr in den Interview- und Rechercheprozessen bewusst, dass die Aussagen und Wahrnehmungen von Geflüchteten beziehungsweise Vertriebenen sich im Kern gleichen, egal, von wo sie entwurzelt wurden und wohin vertrieben. Sie alle sind auf der Suche und wollen ankommen. Ein sehr tiefes Thema, welches auch dazu einlädt, Zwiespalt zu säen.

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Denkmalort für Klein Lieskow und weggebaggerte Heimat. (© Claudia Arndt)

In der „Fläche“ arbeiten

Deshalb ist es Golde ein Anliegen, Tanz verbunden mit Erinnerungskultur auf die Alltagsbühnen in ländlichen Räumen zu bringen. Kunst und Kultur finden wir zuhauf im urbanen Raum, vor allem, wenn es um Hochkultur geht. Ländlichen Räumen, die oftmals als Provinz deklariert wurden, wird nun zunehmend Wertschätzung zuteil. Die sogenannte „Landflucht“, also „raus aus der Stadt, rein ins Grüne“, ist nicht nur attraktiv, sondern überaus sexy geworden. Das konnte sich kaum jemand vor einem Jahrzehnt vorstellen, weshalb es für Golde eine große Herausforderung war, für die von ihr sogenannte „Fläche“ als Kulturort zu plädieren. In der „Fläche“ zu arbeiten, bedeutet abseits der Großstädte oder auch Kleinstädte, Kunst und Kultur zu teilen. Oftmals begegnet ihr das Gefühl, dass die Menschen in der „Fläche“ nicht ernst genommen werden oder von den Städtern herabgewürdigt würden. Es geht ihr nicht darum, zu zeigen, wie man „die“ Kunst macht, sondern darum, Impulse zu setzen, dass auch noch andere Formen der Begegnung mit Kultur und Tanz über den Karneval hinaus existieren. Vorsicht sei hier geboten, denn nur das Recht auf kulturelle Angebote darf nicht verwechselt werden mit einer Überheblichkeit große Kunst niedrigschwellig anzubieten.

Auch praktizierende Kunst ist „Knochenarbeit“!

Das Bespielen ländlicher Räume ist nicht nur eine Herausforderung in der menschlichen Begegnung und Rezeption der Performances. Vielmehr schont Golde die Künstler:innen ihres Ensembles nicht. Das bedeutet, die Tänzer:innen müssen sich jeglichen Witterungsbedingungen in ihrer Performance stellen, der im Übrigen immer ein hoher Anteil an Improvisation innewohnt. Kein weicher glatter Tanzteppich befindet sich unter ihren Füßen und Händen, sondern Beton, Sand und zuweilen auch Scherben. Leicht macht es sich die Tanzkompanie Golde G. in ihren Performanceprozessen also auf keinen Fall. Ein Habitus, der wohl auch vielen Lausitzer:innen innewohnt. Deshalb sind die Reaktionen des Publikums trotz einer gefühlten Begegnung der anderen Art überwiegend positiv und aufgeschlossen. Nicht selten kommt es vor, dass es Nachfragen und Gespräche im Anschluss der Aufführungen gibt.

Golde ist es wichtig, Menschen den Zugang zu Kunst und Kultur zu erleichtern, die nicht ins Theater gehen würden, sollen, können, sondern beispielsweise einfach im Vorbeigehen vielleicht einmal stehen bleiben und darauf aufmerksam gemacht werden, was Tanz noch so kann. Deshalb ist es auch wichtig, Kunst im öffentlichen Raum Gelegenheiten zu bieten. Und vor allem ein künstlerisch-ästhetisches Pendant auf öffentlichen Plätzen zu setzen, die oftmals für rechtsradikale Gedanken oder sogenannte „Spaziergänge“ instrumentalisiert werden.

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Und nun? „Wie geh´ ma weida?“

Golde bleibt in ihrem bevorstehenden Projekt „Klänge der Lausitz“ dem Thema „Strukturwandel trifft Kunst“ treu. Begleitend dazu entsteht eine Choreografie, die für Tänzer:innen und Lichtkunst den Rahmen bietet. Auch hier wird die Kompanie um Golde wieder verschiedene Orte, vor allem in ländlichen Räumen, tanzend besuchen und neue Klang- und Blickperspektiven auf die Lausitz eröffnen. Der Wandel von Identität durch Wandel von Natur und Wirtschaft soll hier ebenfalls auf besondere Art und Weise im Fokus stehen.

Also Augen offenhalten bei einem Spaziergang in den Sommermonaten durch das eigene Dorf oder beim Einkauf auf einem kleinen städtischen Marktplatz in der Ober- oder Niederlausitz.