Veronika Kyrianová über Rabštejn 2024
Veronika Kyrianová über Rabštejn 2024
Wir hier
»Veronika Kyrianová ist Projektmanagerin bei der Gemeinde Česká Kamenice, wo sie sich internationalen und grenzüberschreitenden Kultur- und Bildungsprojekten widmet. Unter ihrer Leitung entwickelt sich in der Region Nordböhmen nicht nur eine Zusammenarbeit mit deutschen Partnern, sondern auch langfristige Aktivitäten, die sich auf den Dialog zwischen den Generationen und die Wiederbelebung historisch bedeutsamer Orte wie des Rabstein-Tals konzentrieren. In diesem Jahr fand hier Anfang September die nächste Ausgabe des internationalen Workcamps statt, ebenso wie das Bildungsprojekt „Rabštejn / Rabstein 2024“. In einem Interview mit Frau Kyrianová sprachen wir über diese Aktivitäten, ihre Sicht auf das Grenzgebiet und ihre Erfahrungen aus dem Projekt „Ein Jahr an der Grenze“, einem Programm des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, das bereits im dritten Jahr läuft und dessen Koordinatorin Veronika im vergangenen Jahr für die Region Ústí nad Labem und Elbtal bis Liberec und Oberlausitz war.«
Hallo Frau Kyrianová, können Sie uns etwas über die internationalen Projekte erzählen, die in Česká Kamenice und im Rabstein-Tal stattfinden?
Hallo. Sehr gerne! In den ersten zwei Wochen im September fand zum vierten Mal das internationale Workcamp in Česká Kamenice und im Rabstein-Tal statt. Dank der Zusammenarbeit zwischen unserer Stadt als Gastgeber und der gemeinnützigen Organisation INEX-SDA konnten wir zehn Freiwillige und drei Leiter aus verschiedenen Ländern wie Deutschland, Polen, Spanien, Frankreich, Finnland, aber auch aus Vietnam oder Taiwan begrüßen. Diese Freiwilligen aus Nordböhmen halfen bei der Reinigung des örtlichen Kulturhauses während einer Rekonstruktion, bei der Instandhaltung der Wanderwege und auch bei der Pflege des Geländes des ehemaligen Konzentrations- und Internierungslagers im Rabstein-Tal.
Sie erwähnen das Rabstein-Tal. Warum ist dieser Ort so wichtig?
Rabstein bei Česká Kamenice ist ein wirklich außergewöhnlicher Ort. Hier finden wir Spuren des industriellen Aufschwungs des 19. Jahrhunderts, dann der Schrecken der beiden Weltkriege, der schwierigen Nachkriegszeit, der Sowjetokkupation und schließlich der Wende vom Jahre 89 und der Nachwendezeit. In den letzten Jahren wurde eine Debatte über die künftige Nutzung des Geländes entfacht. Unser Ziel ist es, hier ein Kultur- und Bildungszentrum zu schaffen. Workcamps und andere Veranstaltungen tragen zu dieser Diskussion bei, die sehr wichtig ist.
Neben dem Workcamp gab es auch ein generationenübergreifendes Bildungsprojekt. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Ja, vom 3. bis 5. September 2024 fand in Zusammenarbeit mit der deutschen Organisation Aktion Zivilcourage ein Bildungsprojekt über die Geschichte von Rabstein und der umliegenden Region statt. Das Projekt umfasste Museumsbesuche, Vorträge, Workshops und Treffen von Teilnehmern aus der Tschechischen Republik und Deutschland, darunter Freiwilligen, Schüler des örtlichen Gymnasiums und ausländischer Schulen. Das Hauptziel bestand darin, die Erinnerung an den Ort zu bewahren und verschiedene Generationen in eine Diskussion über die Vergangenheit einzubinden.
Das klingt sehr interessant. Welche Rolle spielen die Historiker und Zeitzeugen bei diesem Projekt?
Wir haben Experten wie Professor Jörg Skriebeleit, den Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, und Professor Helmut Schmidt, einen gebürtigen Kamenicer, einbezogen, der einen Besuch bei anderen deutschsprachigen Einwohnern organisiert, die bis zum Krieg oder sogar noch etwas länger im heutigen Nordböhmen lebten. Diese Experten und Zeitzeugen nahmen an Vorträgen und Gesprächen mit der jüngeren Generation teil und teilten ihre Erfahrungen und Erinnerungen. Die Interviews wurden aufgezeichnet und sollen später der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Welche Erfahrungen haben die Teilnehmer nach diesen Treffen gemacht?
Schüler des tschechischen Gymnasiums in Česká Kamenice, des deutschen Goethe-Gymnasiums in Sebnitz und des Internationalen Gymnasiums English College Prague sowie eine Gruppe von Workcampern hatten die Gelegenheit, ihre Erfahrungen in einem Workshop zu reflektieren, der von Aktion Zivilcourage, einer Organisation zur Förderung der Demokratie in der Gesellschaft und der politischen Bildung, geleitet wurde. Während des Workshops überlegten sie gemeinsam, wie man der modernen regionalen Geschichte durch verschiedene Formen des (nicht nur künstlerischen) Ausdrucks gedenken kann. Sie dekonstruierten den Begriff des Gedenkens und der Erinnerung und erstellten Mindmaps und 3D-Modelle ihrer neuen Konzepte. Sie überlegten, wie man in Zukunft mit einem Ort wie Rabstein arbeiten könnte, was hier passieren sollte. Am Nachmittag des 4. September fand in Rabstein eine Art Gedenkveranstaltung mit feierlichen Reden und Live-Musik statt. Wir hoffen, dass die Ergebnisse des Projekts uns als Stadt und Gemeinde in unserem Denken über Rabstein weiter leiten werden. Wir haben viele Anregungen erhalten und freuen uns auf weitere Diskussionen, in die wir nach und nach die Öffentlichkeit einbeziehen wollen.
Das Projekt geht also über den lokalen Rahmen hinaus und hat internationale Bedeutung. Wie wird es finanziert?
Das Projekt „Rabštejn / Rabstein 2024“ wird teilweise aus dem EEL-Kleinprojektefonds im Rahmen des INTERREG-Programms Sachsen-Tschechische Republik finanziert, das von der Europäischen Union kofinanziert wird. Die Durchführung des Workcamps wird von der Stiftung Ústecká komunitní nadace über den AIR PRODUCTS-Fonds unterstützt.
Sie erwähnten die Zusammenarbeit mit einer deutschen Organisation und grenzüberschreitende Aktivitäten im Allgemeinen. Können Sie uns etwas über Ihre Aktivitäten im Rahmen des Projekts „Ein Jahr an der Grenze“ erzählen, das vom Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds initiiert wurde?
Ja, dieses Programm ermöglichte es mir, viele interessante Organisationen oder Initiativen in der Nähe der deutsch-tschechischen Grenze kennenzulernen und ihr Interesse und ihre Fähigkeit herauszufinden, die Grenzen zu Nachbarn zu überschreiten, die in ähnlichen Bereichen wie sie selbst tätig sind. So hatte ich die Möglichkeit, einen Einblick in verschiedene Tätigkeitsbereiche von Menschen zu bekommen, die im Grenzgebiet aktiv sind und sich nicht scheuen, aus ihrer Komfortzone herauszutreten und vielleicht zum ersten Mal oder nach einer – z.B. covid-bedingten – Pause grenzüberschreitende Kontakte zu knüpfen. Ob sie nun „nur“ ein Kennenlernen, ein einfaches freundschaftliches Treffen, den Austausch von Erfahrungen und gegenseitigem Know-how oder sogar eine Zusammenarbeit bei einem bestimmten Projekt oder sogar eine längerfristige Partnerschaft erwarten. Konkret habe ich in „meinem“ Teil der deutsch-tschechischen Grenze - vielleicht zumindest teilweise erfolgreich - Kontakte zwischen niedrigschwelligen Jugend– und Gemeindezentren, Organisationen, die mit psychisch Kranken arbeiten, Biobetrieben und Ökofarmen, Schachspielern und Roma-Fußballern, selbständigen Unternehmerinnen, Stadtbibliotheken oder Kulturorganisationen und -festivals hergestellt.
Und wie nehmen Sie persönlich das Grenzgebiet wahr? Was bedeutet es für Sie?
Für mich bedeutet das Grenzgebiet wohl einen Freiraum für die Entwicklung, etwas, das es vielleicht noch nicht gibt, aber (hoffentlich) geben kann. Es ist da also möglich, süß von der Zukunft zu träumen, während man sich ständig mit all den Fallstricken der Gegenwart auseinandersetzt. Aber in jedem Fall gibt es Raum für Entwicklung, vor allem für die Entwicklung des eigenen Ichs, aber auch für die Entwicklung der Beziehungen, nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zur Landschaft und zu allen nicht-menschlichen Lebewesen, auch zu den Vorfahren und den künftigen Generationen. Raum für die Entwicklung der hier existierenden Gemeinschaften, ihrer (nicht) vorhandenen Infrastruktur und ihrer (nicht) vorhandenen Vernetzung, ihrer Bürger und Gemeinschaften, die hier sind und nicht hier sind, die geboren werden und weggehen, die entstehen und verschwinden. Das Grenzland bietet viel Raum, um seine eigene Attraktivität für das Leben darin zu entwickeln. Aber auch unendlich viel Raum für die Entwicklung von (eigener) Bildung und Kultur im weitesten Sinne. Es ist ein Ort zum Erleben, zum Wiederkommen und zum Wahrnehmen des hiesigen Alltags und seiner Besonderheiten, und schließlich vielleicht auch zum Bleiben, um hier das bestmögliche Leben in nachhaltiger Weise im Einklang mit der Umgebung zu leben und auch gute Bedingungen dafür mit zu schaffen. Das sind vielleicht zu hoch gegriffene Worte...
Aber das Grenzgebiet ist eigentlich der größte Teil der Tschechischen Republik, denn die meisten Regionen der Tschechischen Republik grenzen an andere Länder, und der größte Teil unseres Landes liegt eigentlich außerhalb des Zentrums, am Rande anderer Länder und Kulturen. Das Grenzland ist also unsere tschechische Realität, die ganze Republik befindet sich de facto an der Peripherie, und das ist eine Selbstverständlichkeit, aber ich sehe darin einen Vorteil und ein Potenzial, das uns natürlich ermutigt, uns mehr zu öffnen als zu verschließen - wenn wir nicht in unserer engen tschechischen Schale ganz draußen bleiben wollen. Es ermutigt uns, ein wenig über unsere eigenen Grenzen hinauszugehen, in einer anderen Sprache als der eigenen zu kommunizieren, unsere Nachbarn kennenzulernen und die Nähe eines anderen Lebens, einer anderen Kultur, einer anderen Geschichte, einer anderen Meinung und oft auch einer anderen Lebenswirklichkeit als Chance für unsere eigene Entwicklung zu sehen. Schließlich sind wir alle verschieden, sogar in unserem eigenen Land und unter unseren eigenen Leuten, und das Anderssein, das in den Grenzgebieten vielleicht noch deutlicher zu spüren ist, ist ganz normal.
Wie würden Sie die derzeitigen Beziehungen zwischen Tschechen, Deutschen und Polen in dieser Region beschreiben?
Ich möchte nicht verallgemeinern, denn das ist eine Falle, in die ich nicht tappen möchte. Ich meine, das ist schwer zu sagen. Es geht immer um die Menschen. Ich meine, es geht um bestimmte Menschen und darum, wie sie sich zueinander verhalten, wie sie versuchen oder nicht versuchen, einander zu verstehen und miteinander auszukommen oder nicht auszukommen. Und es ist auch wichtig, welche Bedingungen sie dafür haben, ob sie die Möglichkeit haben, das zu tun, ob sie es schaffen, ob sie ihre Zeit und Kraft, Energie, Ressourcen, auch finanzielle, dafür zur Verfügung haben und stellen.
Ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen eine erfolgreiche Umsetzung Ihrer Projekte.