Schützenfest

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»Heimat ist da, wo es wehtut«

„In dieser Gegend geboren zu sein, fühlt sich an, als hätte man gegen seine Willen ein Tattoo gestochen bekommen, das man von Anfang an nicht gemocht hat. (…) Man weiß, es wird einen jetzt für immer begleiten, aber schön ist es nicht.“ So beschreibt der Protagonist Gunnar Bäumer seinen Bezug zu dem westfälischen Dorf, in dem er aufgewachsen ist. In dem Buch „Schützenfest“ geht es darum, wie sehr einen die eigene Herkunft prägt, wie man den Begriff Heimat definieren kann und warum es besser wäre, wenn man da, wo man weggeht, wirklich fertig wäre, anstatt sich an den offenen Baustellen sein restliches Leben abzuarbeiten. Und es geht darum, wo es sich besser leben lässt: Auf dem Dorf oder in der Großstadt.

Obwohl das Buch in der westfälischen Provinz spielt, gibt es Parallelen zu anderen ländlichen Gebieten, die einem erstaunlich vertraut vorkommen. Ein weiteres Zitat aus dem Buch habe ich beim ersten Lesen mit einem Ausrufezeichen versehen, da es mich sofort an meine Heimat, die Oberlausitz erinnert hat: „Es wäre ein Leichtes, diese Gegend hier lächerlich zu machen. Einerseits ist da dieser Zorn, den ich seit Jahren mit mir herumtrage, ob der Sturheit dieses Landstriches und seiner Bewohner, die sich einfach jeder Veränderung widersetzen. (...) Andererseits möchte ich der Welt nicht ewig meine schlechten Beurteilungen zukommen lassen. Davon wird auch mein Charakter düster. Ich will diesen Zorn verlieren, ihn bestenfalls gegen Gelassenheit eintauschen.“

Aber wie soll man bei der aktuellen Nachrichtenlage diese Gelassenheit erreichen? Muss man das wirklich oder ist Heimat immer auch etwas, dass wehtut? Über diese und andere Fragen habe ich mit dem Autor des Buches, Dirk Bernemann, gesprochen.

Dirk Bernemann
DFür Dirk Bernemann ist Heimat da, wo es wehtut. (Foto: Verlag)

In Ihrem Buch schreiben Sie: „(…) und man sitzt dort, die Augen streifen die Wiesen und die Ortsschilder und die Gebäude, die man kennt, und man fühlt sich trotzdem nicht zu Hause. Denn was heißt schon zu Hause? Was will schon Heimat?“ Trotzdem bezeichnen Sie Ihr Buch als Heimatroman. Warum?

Die Gegend, aus der ich stamme, hat mich immer wieder beschäftigt. Auch bei meinem Protagonisten, Gunnar Bäumer, verändern sich seine Denkstruktur und seine emotionale Struktur, wenn er sich seinem Heimatort nähert. Er hat Angst, dass er ein anderer Mensch ist, da, wo er aufgewachsen ist, als da, wo er jetzt zu leben versucht. Heimat bezieht sich deshalb nicht auf Identität, sondern auf die Suche nach einem Platz, der als zu Hause gelten kann, einem Ort, wo man ganz man selbst ist. Diesen Ort hat Gunnar noch nicht gefunden. Er sucht unbewusst danach und nennt es Heimat. Er wird in seinem Heimatdorf mit dem Schützenfest und damit mit vielen Punkten aus seiner Biografie konfrontiert, die er noch nicht verarbeitet hat. Deshalb hieß das Buch ursprünglich auch die Landschaft der unaufgeräumten Reste.

Gunnar beschreibt seine Heimat so: „Viele Jahre nach meiner Schulzeit denke ich immer noch, dass die Gegend, aus der ich stamme, eher ein perfekt arrangiertes Szenenbild für einen Heimatfilm ist als wirklich ein Ort zum Leben. Eine Art Kulisse könnte das sein, vollgestellt mit schönen Dingen und emotionsmüden Schauspielern.“ Woher kommt diese Emotionslosigkeit, mit der er aufwachsen musste?

Die Menschen können einfach nicht über Gefühle sprechen. Auch mein Protagonist hat das schon als Kind erfahren müssen und trägt es noch im Erwachsenenalter mit sich herum. Über die schlimmen Erfahrungen, die er gemacht hat, konnte mit niemanden reden, insbesondere nicht über das Erlebnis, dass ihn so hochgradig traumatisiert hat. Er ist ein traumatisierter Mensch einerseits aufgrund seiner Erziehung und andererseits durch Gegend, in der er aufgewachsen ist und die auf ihn eingewirkt hat. Als er sich dann diesen Traumata stellen muss, bricht viel in ihm auf, das ist ein natürlicher Prozess.

Eine Szene, in der das „Nicht-Miteinander-Reden-Können“ anschaulich beschrieben wird, ist ein Rückblick in die Kindheit Gunnars. Dort betrank sich sein Vater auf dem Schützenfest dermaßen, das er arge Mühe hatte, alleine nach Hause zu kriechen. Thematisiert wurde dieser Aussetzer in der Familie aber nicht.

Viele Kinder in meinem Alter mussten erleben, wie ihre Eltern so hart und derbe auf diesem Fest eskaliert sind. Sie mussten sich Dinge ansehen, die wirklich würdelos waren, zum Beispiel eben, dass Leute besoffen auf der Straße lagen und nicht mehr weiterlaufen konnten. Ich weiß nicht, ob die Menschen dafür ein Schamgefühl haben. Wenn das Fest vorbei ist, geht die Normalität einfach weiter, ohne darüber zu sprechen. Westfälisches Schweigen, so habe ich das mal genannt. Ich komme aus dieser Region und kann natürlich auch nur für diese Region sprechen. Ich habe mal eine Story gehört von zwei verfeindeten Bauern, die Probleme miteinander hatten wegen ihrer Ländereien. Die wollten vor Gericht gehen, haben es aber nicht gemacht, weil es nicht zum guten Ton gehört. Einer hat dann gesagt, der Streit das erst zu Ende, wenn einer von uns beiden stirbt. Wir halten also Streit aus, sind böse aufeinander und reden nie wieder miteinander.

Die Sprache an sich scheint auch etwas zu sein, woran sich fest macht, dass in Gunnars Heimat so wenig über Gefühle gesprochen wird.

Meine Eltern sprechen beide Plattdeutsch, allerdings jeweils einen anderen Dialekt, obwohl sie auf Bauernhöfen aufgewachsen sind, die nur 30 bis 40 km auseinander lagen. Ich verstehe beide, kann es selbst aber nicht sprechen, weil ich die Lautbildung einfach nicht hinkriege. Vielleicht liegt es daran, dass diese Sprache überwiegend aus Nutz- als aus Fühlwörtern besteht. Es gibt sehr grobe und harte Wörter und weniger emotionale Wörter. Das hat mich schon immer gestört. Das lässt sich vielleicht darauf zurückführen, dass eine ländliche Gemeinschaft funktionieren muss und Bauern harte Arbeiter sind, die keine emotionale Sprache benutzen. Außer, wenn wie beim Schützenfest Alkohol dazu kommt. Dieses Fest ist ein Zusammentreffen von zwei extremen Situationen. Einmal das Losgelöste durch den Alkohol, zum anderen die Verstocktheit. Wenn das beides aufeinandertrifft, kann es zu explosionsartigen Gefühlsausbrüchen führen.

Diese Gefühlsausbrüche äußern sich ja immer dann, wenn Gunnar auf Menschen trifft, mit denen ihn etwas aus der Vergangenheit verbindet, dass noch nicht aufgearbeitet wurde - wie seine Jugendliebe Franziska oder die Wortmann-Brüder. Das steht dann in einem harten Gegensatz zu dem Bild, dass man zuerst von der Gegend wahrnimmt und das Gunnar so skizziert: „Ich höre die Idylle leise flüstern. Sie erzählt etwas von Sicherheit, Beständigkeit und der einfachen Gelegenheit, Teil der Gemeinschaft zu sein. Die totale Abwesenheit von Problemen. Leise und sauber.“

Die Gegend ist eigentlich reich, zum einen durch die alten Bauernfamilien, zum anderen durch die Industrie. Das Dorf, aus dem ich stamme, hat eine große Textilfabrik und ein großes Kunststoffwerk. Deshalb gibt es da keine Grundarmut. Trotzdem gab und gibt es Klassenunterscheide, auf die auf dem Dorf ganz besonders geachtet wird. Es gibt die Asozialen und die Gutbürgerlichen, und bei den gutbürgerlichen noch eine zweite Reihe. Die Gutbürgerlichen haben keine Lust darauf, dass ihre Kinder mit den Asozialen spielen. In Gunnars Fall wollten seine Eltern nicht, dass er etwas mit den Wortmann-Brüdern zu tun hat, die in einer leicht asozialen Gegend wohnen. In Berlin könnte ich nicht einschätzen, ob meine Nachbarn reich oder arm sind. Im Dorf ist das einfacher zu beurteilen, ob man in einer klapprigen Mietwohnung wohnt oder in einem Eigenheim in einer neu gebauten Siedlung.

Trotzdem haben die Menschen offensichtlich unabhängig von ihrer sozialen Schicht die Möglichkeit, ihr ganzes Leben in der Gegend zu verbringen, wo sie aufgewachsen sind. In der Oberlausitz mussten viele nach der Wende wegziehen und hatten gar nicht die Chance, in ihrer Heimat zu bleiben.

Das ist in Westfalen tatsächlich anders. Hier verändert sich die Struktur auf dem Land kaum. Läden, die etabliert sind, bleiben meist. Man kann sich in der Regel darauf verlassen, dass in dem Eckgeschäft, wo schon seit 30 Jahren ein Friseur drin ist, auch in 30 Jahren noch einer sein wird und dass die Kinder die Geschäfte ihrer Eltern übernehmen können. Auch Leute, die in der Schule nicht so gut waren, konnten bespielsweise bei der Firma Rehau, die Kunststoffgranulat herstellt, noch relativ gut dotierte Ausbildungsplätze bekommen. Das heißt, sie hatten einen Anlass und die Möglichkeit, in ihrem Heimatort zu bleiben.

Vieles in dem Buch dreht sich ja auch um die Frage, wo man besser leben kann: In der Stadt oder auf dem Land. Was meinen Sie?

Ich habe in meinem Buch ganz bewusst ohne Wertung die Vor- und Nachteile der jeweiligen Gegend dargestellt. Der Vorteil von einem Dorf ist, das alles viel verbindlicher ist und man sofort Ansprechpartner in Form von Nachbarschaft oder Vereinen findet. In einer Großstadt muss man nach dieser Verbindlichkeit länger suchen, vor allem, was Absprachen betrifft. Der Nachteil ist natürlich, dass man auf dem Land unter einer gewissen Beobachtung steht. Das liegt natürlich auch an der räumlichen Nähe, die sehr schnell einengend wirken kann. Vor dieser Enge ist mein Protagonist ja auch geflüchtet, weil jeder über jeden Dinge weiß, die man vielleicht gar nicht wissen möchte oder die so unerheblich sind, dass man sie normalerweise einfach verdrängt. In einer Stadt wie Berlin kann man in der Anonymität komplett untertauchen, was für viele Menschen eine gewisse Freiheit bedeutet. Natürlich kann es auch zu einer gewissen Einsamkeit führen, wie es bei Gunnar der Fall ist. Viele verbinden eine romantische Vorstellung damit, nach Berlin zu ziehen. Die Realität hat natürlich mehr Ecken und Kanten. Das spiegelt sich in der naiven Vorstellung von Coco wider, die etwas jünger als Gunnar ist und ausbrechen möchte, weil sie glaubt, nur so ein vollständiger Mensch zu sein.

In dem Buch werden sehr viele Themen angesprochen. Manches wird aber nicht aus erzählt, sondern bleibt offen.

Ich finde das als Autor gerade spannend, bestimmte Sachen offen zu lassen, um den Leser im Nachhinein darüber nachdenken zu lassen, was aus den einzelnen Figuren wird. Ich finde es gut, bestimmte Dinge nur anzureißen und Gunnar macht es eigentlich genauso. Er trifft die Leute nur kurz, macht eine schnelle Inaugenscheinnahme, prüft das psychologische Profil seiner Gegend, seiner Bekannten und ehemaligen Freunde, ist aber eigentlich nur auf der Durchreise. Er denkt immer: Ich bin ja bald wieder weg. Trotzdem trägt er diese Sache in sich, die ihm klarmachen, dass er in seinem Heimatdorf die Dinge erlebt hat, die ihn zu dem Menschen gemacht haben, der er jetzt ist.

In einem anderen Interview haben Sie gesagt, wer geht, sollte da, wo er weggeht, fertig sein.

Das ist eher ein Ratschlag, obwohl ich weiß, dass es in der Realität oft anderes aussieht. Es ist besser mit offenen Dingen abzuschließen, damit einen die Probleme nicht bis zu dem Ort verfolgen, wo man danach hingeht. Je weniger Probleme man mit einem Ort verbindet, umso freier kann man diesen Ort wieder besuchen.

Ich finde, das Buch bietet viele Anhaltspunkte, mit denen man sich identifiezieren und über die man diskutieren kann, auch wenn man nicht direkt aus Westfalen stammt.

Meist sind es ja nicht die großen Geschichten, die auf dem Dorf passieren, sondern die kleinen, die man aber trotzdem gut erzählen kann. Das Buch ist für mich als Autor immer der erste Schritt zur Kommunikation und ich bin dankbar, wenn daraus eine Diskussion entsteht, besonders zum Thema Heimat.

Weitere Informationen zum Buch:

https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Schuetzenfest/Dirk-Bernemann/Heyne-Hardcore/e584280.rhd